Driving Change - Der Diversity Podcast

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Der Diversity, Equity & Inclusion Podcast von BeyondGenderAgenda

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DRIVING CHANGE

Der Diversity Podcast von BeyondGenderAgenda

Gemeinsam mit ihren Gäst: innen setzt CEO und Gründerin Victoria Wagner die Themen Diversity, Equity und Inclusion (DE&I) auf die Agenda der deutschen Wirtschaft. DE&I bezogene Fragen und aktuelle Ereignisse werden erörtert und aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Durch das Teilen persönlicher Erfahrungen und konkreter Lösungsansätze wird ein Beitrag zu einer diverseren und inklusiveren Wirtschaft geleistet.

16.09.21 EPISODE MIT RAUL KRAUTHAUSEN – SOZIALHELD: INNEN

Raul: Es scheint für Unternehmen immer noch leichter zu sein, mit Behindertenwerkstätten zu kooperieren, die das Gegenteil von Inklusion sind, als selbst Menschen mit Behinderungen im eigenen Betrieb zu beschäftigen.

Vicky: Hallo und herzlich willkommen zu DRIVING CHANGE dem Diversity-Podcast. Ich bin Vicky Wagner, Gründerin und CEO von BeyondGenderAgenda und spreche mit meinen Gäst:innen darüber, was wir gemeinsam tun können, um die Themen Diversität, Chancengerechtigkeit und Inklusion auf die Agenda der deutschen Wirtschaft zu setzen. Mein heutiger Gesprächspartner ist Raul Krauthausen. Er ist Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit, Mitbegründer der SOZIALHELD:innen und setzt sich für zahlreiche soziale Projekte ein. Zudem ist Raul im Beirat von BeyondGenderAgenda. Schön, dass du da bist, lieber Raul. Ich freue mich, dass du heute Zeit für ein Gespräch hast.

Raul: Hallo, danke für die Gelegenheit.

Vicky: Sehr gerne! Ich meine, die meisten werden dich kennen, lieber Raul, aber es wäre schön, wenn du dich mit deinen eigenen Worten und vor allen Dingen deinen eigenen Schwerpunkten noch einmal ganz kurz vorstellen könntest.

Raul: Wie du ja bereits gesagt hast, bin ich Raul Krauthausen. Ich komme aus Berlin, bin 41 Jahre alt und engagiere mich seit ungefähr 20 Jahren für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Seit 17 Jahren gibt es unseren Verein SOZIALHELD:innen und wir beraten Unternehmen in Bezug auf Inklusion und Barrierefreiheit. Wir betreiben aber auch viele eigene Projekte zum Thema „Selbstbestimmt Leben“ von Menschen mit Behinderungen. Wir versuchen das Ganze unter dem Motto „Disability Mainstreaming“ auch so zu kommunizieren und Produkte zu entwickeln, dass diese auch im Mainstream funktionieren und sich für behinderte Menschen nicht immer nach Krankenhaus oder Krankenkasse anfühlen, sondern auch etwas, was ihnen in ihrem Alltag und ihrer Freizeit das Leben wirklich erleichtert.

Vicky: Ja, letztendlich, dass Menschen mit Behinderung auch einfach in unserer Mitte ankommen und wahrgenommen und gesehen werden. Du als Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit hinterfragst die gesellschaftlichen Normen. Warum ist das immer noch so wichtig?

Raul: Normen entstehen meistens dort, wo sich eine Mehrheit auf bestimmte Standards einigt. Und das ist nun mal so, dass 10 Prozent unserer Gesellschaft eine Behinderung haben. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass 90 Prozent keine Behinderung haben und diese zwei Gruppen einander super selten begegnen. Das wird in Deutschland noch mal dadurch beschleunigt und begünstigt, dass behinderte Menschen systematisch aussortiert werden. Zum Beispiel in Förderschulen, Behindertenwerkstätten, behinderten Wohnheimen oder Sonderfahrdiensten. Und das sind letztendlich weitere Gründe, warum Menschen mit und Menschen ohne Behinderungen einander so wenig begegnen. Andere Länder sind da wesentlich weiter, was das Thema Inklusion angeht - also das gemeinsame Verbringen von Zeiten und Orten, von Menschen mit und ohne Behinderungen. Und das setzt aber Barrierefreiheit voraus. Das heißt, wenn der öffentliche Personennahverkehr nicht barrierefrei ist, dann begegnen Menschen mit und ohne Behinderung sich natürlich eher seltener. Zum Beispiel, wenn Schulen nicht barrierefrei, Unterrichtsmaterialien nicht zugänglich sind oder Menschen mit Behinderung von Amts wegen in andere Schulen gesteckt werden – das ist völlig unbegründet – obwohl sie auch an eine Regelschule hätten gehen können. Dann verhindern wir jedes Mal Begegnung. Wir glauben auch, aus unserer eigenen Arbeit und Erfahrung heraus, in den letzten Jahren, dass es mit Aufklärung, Leuchtturmprojekten und mit gutem Beispiel voranzugehen allein nicht mehr getan ist. Sondern, was wir jetzt machen müssen ist, wirklich dafür zu sorgen, dass Menschen mit und ohne Behinderungen einander begegnen können. So können wir dann letztendlich die Vorurteile und Ängste, die es vielleicht gibt, abbauen, aber nicht nur durch Theorie.

Vicky: Und was genau braucht es dafür? Braucht es deiner Meinung nach, klare gesetzliche Regelungen? Du hast von Leuchtturmprojekten gesprochen, dass das Appellieren, das Motivieren allein nicht ausreicht. Was muss konkret geschehen, dass wir jetzt nicht noch weitere Jahrzehnte warten müssen, bis es ein Miteinander gibt?

Raul: Also ich glaube, wir können ganz viel aus anderen Regulierungen lernen. Weil die Leuchtturmprojekte, die es zum Thema CO2-Reduktion gab oder die Leuchtturmprojekte, die es zum Thema gleichberechtigte Beschäftigung von Männern und Frauen gab, das hat alles auf freiwilliger Basis nie funktioniert. Was funktioniert ist, wenn wir die Frauenquote nehmen oder wenn wir CO2-Reduktion nehmen, dann sind es Verpflichtungen und Vorgaben. Das klingt jetzt erst mal unattraktiv, unsexy und ständig haben Menschen dazu Meinungen, aber das sind bisher weltweit die einzigen Methoden, die wirklich dazu geführt haben, dass sich substanzielle Dinge verbessert haben. Man kann gerne irgendwann in 100 Jahren über die Abschaffung dieser Quoten diskutieren, weil die volle Gleichberechtigung erreicht wurde, aber bis dahin müssen wir wahrscheinlich den Weg über Quoten und gesetzliche Regelungen gehen. Hinzu kommt ganz klar der Abbau von Barrieren. Diese Barrieren können vielfältig sein. Sie können bauliche Barrieren sein. Sie können natürlich auch Vorurteile und Ängste sein, aber sie sind eben auch, und da muss der Gesetzgeber ran, bürokratischer Natur sein. Beispielsweise erzählen uns Unternehmen, dass sie behinderte Menschen beschäftigen würden, sich aber niemand bewerben würde. Oder aber, dass die Bürokratie unglaublich ist, wenn man dann einmal eine Bewerberin hat. Wenn es zum Beispiel darum geht, Fördergelder zu beantragen, um Umbaumaßnahmen im Gebäude zu ermöglichen. Das ist sehr kompliziert. Und es scheint für Unternehmen immer noch leichter zu sein, mit Behindertenwerkstätten zu kooperieren, die das Gegenteil von Inklusion sind, als selbst Menschen mit Behinderungen im eigenen Betrieb zu beschäftigen.

Vicky: Jetzt mal eine etwas forsche Frage, weil du gerade die Unternehmen erwähntest, die sagen, es ist einfach auch schwierig, an die Fördertöpfe zu kommen. Ich meine, das ist ja bei vielen Themen so. Wenn man sich jetzt zum Beispiel das Thema Bildung anschaut und den Bildungspakt, auch die Schulen tun sich da schwer - Digitalisierung ist auch so ein Thema. Müssen die Unternehmen oder die deutsche Wirtschaft vielleicht ganz allgemein stärker selbst in die Pflicht genommen werden? Das eine ist Abbau staatlicher Regulierung. Das andere ist aber auch, selbst Verantwortung dafür zu übernehmen, dass solche Töpfe in Unternehmen zur Verfügung gestellt werden.

Raul: Ja, auf jeden Fall. Sicherlich darf man auch nicht alles dem Staat anlasten. Die Unternehmen haben auf jeden Fall auch eine Verantwortung, behinderte Menschen in ihren Belegschaften anzustellen. Und dann auch nicht nur als Pförtner:innen oder in der Poststation, sondern eben auch in projektleitenden Funktionen oder vielleicht sogar als CEO, so dass insgesamt viel mehr Bewusstsein herrscht. Wir bräuchten auch viel mehr Vorbilder, die zeigen, wie es gehen kann und vor allem kreativere Lösungen, was die Beschäftigung und auch was das Recruiting angeht. Also wie gesagt, viele Unternehmen erzählen uns, dass sie sowieso Computer Arbeitsplätze haben. Und da wäre dann jemand mit Behinderungen super einsetzbar, aber es würde sich niemand bewerben. Und wenn man dann genauer hinschaut, dann stellt man fest, dass der komplette Bewerbungsprozess über das Online-Formular auf der Website, usw. für blinde Menschen gar nicht barrierefrei war und, dass die Floskel „Menschen mit Behinderungen bei gleicher Eignung bevorzugt“ auch erst mal eine Floskel ist. Ich glaube, dass wenn man das wirklich ernst meint, beim Recruiting und Hiring von behinderten Menschen, man auch auf Headhunting gehen muss. Also auf die aktive Suche, behinderte Menschen aktiv anzusprechen, sich dort zu bewerben und zu motivieren. Da gibt es zahlreiche Portale, zum Beispiel Myability, die jetzt auch in Deutschland gestartet sind. Als eine Jobplattform zum Thema Menschen mit Behinderungen, die einen Job suchen. Es gibt einige Facebook-Gruppen, unter anderem auch eine von uns, wo wir immer mal wieder im Austausch mit Bewerber:innen und Unternehmen Anzeigen schalten. Es gibt aber auch zahlreiche Newsletter. Zum Beispiel, das wissen viele Leute gar nicht, gibt es auch Berufsbildungswerke. Dort werden behinderte Menschen in den verschiedensten Berufen ausgebildet, Mediengestalter:in, Tischler:in, oder was auch immer. Da können Unternehmen auch aktiv hingehen und vorstellig werden und sagen: „Hey, wenn ihr hier mit der Ausbildung fertig seid, bewerbt euch bei uns.“

Vicky: Ja, das sind doch auf jeden Fall sehr konkrete und hilfreiche Tipps, vielen Dank dafür. Wofür ich dir auch sehr dankbar bin, ist, dass du dich seit gut eineinhalb Jahren im Beirat von BeyondGenderAgenda engagierst. Denn uns geht es ja tatsächlich darum, bisherige Minderheiten sichtbarer zu machen, auch in Führungspositionen. Und du hast es eben selbst erwähnt, warum sehen wir Menschen mit Behinderungen nicht in Führungspositionen oder sogar als CEO? Wir haben ganz zu Beginn von BeyondGenderAgenda auch schon einmal gemeinsam einen Podcast aufgenommen und wo du uns schon erste Einblicke gegeben hast. Seitdem sind wir etwas gebeutelt von der Pandemie, aber wir haben uns dazu zwischenzeitlich ausgetauscht. Und du kommunizierst es immer wieder über die Social-Media-Kanäle, dass Menschen mit Behinderung hier oft vernachlässigt und vergessen werden, wenn das ganze Pandemie geschehen betrachtet wird. Wie hat sich die Thematik deiner Meinung nach entwickelt? Jetzt gibt es immerhin Impfungen und es gibt eine leise Hoffnung, dass es sich etwas bessert. Wie sieht die ganze Thematik für Menschen mit Behinderungen deiner Meinung nach aktuell aus?

Raul: Also die Coronapandemie war für uns alle, oder ist für uns alle eine Scheißzeit. Da kann man relativ wenig schönreden. Diese Zeiten stecken viele Menschen vor große Herausforderungen und Menschen mit Behinderungen haben sicherlich nicht alle, aber viele von ihnen, nochmal stärkere Ängste, was auch ihr eigenes Leben angeht, weil sie mit einer Erkrankung vielleicht eher schwerer erkranken könnten als jemand, der keine Behinderung hat. Das heißt, wir reden dann auch über Todesangst, dass sicherlich viele Menschen in große stresshafte Situationen gebracht hat. Gerade, wenn man auf Pflege angewiesen ist, wo man auch Sorge hatte, dass das Pflegepersonal ausfällt oder es selbst erkrankt ist oder einen infiziert. Oder Familien, wo jemand eine Behinderung hat, sind sicherlich auch vor ganz andere Herausforderungen gestellt worden, zusätzlich zu denen, die wir alle haben. Nämlich Impfungen bekommen, Homeschooling, Homework, und den ganzen Zauber, der da dazukam. Gleichzeitig hat mich die Pandemie aber persönlich gelehrt, dass unglaublich viele Sachen digital möglich sind, viel mehr als ich es selbst geglaubt habe. Obwohl wir bei den SOZIALHELD:innen schon immer digital gearbeitet haben. Also Homeoffice ist bei uns inzwischen Standard geworden und wird es sicherlich auch bleiben, auch über die Coronapandemie hinaus. Wir haben einfach gemerkt, dass wir Remote teilweise sogar besser zusammenarbeiten können, weil man bei sich zu Hause einfach konzentrierter ist und man sich nur für Meetings persönlich trifft. Das ist sicherlich etwas, was bei uns bleiben wird. Podcast lassen sich ganz gut aufnehmen, wie du hier ja auch mitbekommst. Ich habe mir ein gutes Mikrofon angeschafft, meine Zimmer einigermaßen akustisch abgeriegelt, dass da auch Podcasts leichter möglich sind. Das heißt, ich habe mich irgendwie angepasst. Vielleicht gibt die Digitalisierung Menschen mit Behinderungen auch neue Möglichkeiten, teilzuhaben, auch Online-Lehre ist inzwischen leichter möglich, als es vor drei Jahren der Fall war. Ich habe Freundinnen und Freunde, die studieren über Zoom, was behinderte Menschen schon seit Jahrzehnten fordern - irgendwie eine Möglichkeit der Online-Lehre. Und jetzt auf einmal, wo es alle betrifft, ist es plötzlich möglich. Wir hoffen, dass diese Möglichkeiten natürlich bleiben. Gleichzeitig warne ich aber auch ein bisschen davor, dass das Digitale, der digitale Raum so eine Art Katzentisch wird, für Menschen mit Behinderungen. Also nach dem Motto, das Unternehmen sagen: „Naja, also wenn wir jetzt jemand mit Behinderungen beschäftigen, dann kann er ja von Remote zuarbeiten und dann müssen wir keinen Aufzug ins Gebäude bauen. Diesen digitalen Katzentisch müssen wir verhindern. Menschen mit Behinderungen müssen genauso die Wahl haben, ob sie ins Büro gehen oder Homeoffice machen, wie Menschen ohne Behinderungen auch, darauf müssen wir achten. Und wenn du mich jetzt politisch fragst, mach ich mir große Sorgen über den Stellenwert, den Menschen mit Behinderungen in der Politik haben. Weil dort in den letzten Monaten immer mal wieder Themen aufkamen, so etwas wie Triage oder das Thema Impfungen: wer wird geimpft? Wer wird zuerst geimpft? Risikogruppen? Usw. ..., dass man den Eindruck gewinnen könnte, dass behinderte Menschen eigentlich der Politik nur dann bekannt sind, wenn sie in Heimen leben oder in Einrichtungen sind, aber nicht, wenn sie zu Hause in ihren eigenen vier Wänden sind, wenn sie selbstbestimmt durchs Leben fahren oder gehen oder einem Beruf nachgehen. Sie wurden in der Impfpriorisierung bisher vergessen und das, obwohl sie sich natürlich auch Risiken ausgesetzt haben. Das war schon ein sehr heikles Thema. Oder auch, dass es Jens Spahn bis jetzt nicht gebacken bekommt, in seinen Pressekonferenzen Gebärdensprachdolmetschen anzubieten, was jedes andere Land hinbekommt außer Deutschland. Und das ist beschämend und spricht in meinen Augen irgendwie Bände.

Vicky: Ja, das lassen wir mal so stehen und da ist sicherlich noch viel Raum zur Verbesserung. Du hast es jetzt mehrfach erwähnt, dass es in Deutschland leider immer noch normal ist, dass Menschen mit Behinderung ein eben nicht aktiver oder sehr inkludiert Teil der Gesellschaft sind, sondern eben in behinderten Werkstätten sind. Und du hast vorhin auch erwähnt, dass es dazu eigentlich eine Quote braucht. Kannst du das nochmal konkretisieren? Es gibt die die Fünf-Prozent-Einstellungsquote, aber die reicht ja nicht. Da brauchen wir glaube ich nicht drüber diskutieren. Welche Quote würde denn helfen? Wie bekommen wir das Thema wirklich hin? Wie kann man das konkretisieren und greifbarmachen, um daraus vielleicht auch eine Art Aktionsplan zu entwickeln, dass es jetzt in zügigeren Schritten vorangeht?

Raul: Wenn wir jetzt nur über die Quote reden, dann würde ich sagen, wir haben fünf Prozent. Und auf jeden Fall schon etwas, wo wir einen großen Schritt gegangen wären, wenn es alle einhalten würden. Die meisten Unternehmen, die das nicht tun, sind KMU's. Das heißt, wir reden nicht über die DAX 20, sondern wir reden hier über Unternehmen, die ab 20 Mitarbeiter:innen in diese Quotenregelung fallen. Das heißt, bei 20 Mitarbeiter:innen wäre ab einer Person mit Behinderungen die Quote von fünf Prozent erreicht. Das ist jetzt auch kein Ding der Unmöglichkeit. Wir müssen die Frage stellen, warum sich gerade KMUs so schwer mit diesem Thema tun. Es hat sicherlich bürokratische Gründe, dass einfach der bürokratische Aufwand für viele Unternehmen bei der Erfassung und Beantragung von Förderungen oder Unterstützungen einfach für viele eine große Hürde ist. Es kann auch daran liegen, dass Unternehmen vielleicht sogar ihre Quote erfüllen, aber es selber gar nicht wissen, weil die Bewerber:innen ihre Behinderung nicht preisgegeben haben, aus Angst vor Nachteilen. Es kann auch sein, dass in der Personalabteilung von einem KMUs die Berührungsängste so hoch sind, dass es dann einfach mal schnell bei Bewerbungen hintenüberfällt. Also, wenn jemand schreibt „Ich habe eine Behinderung“, man dann doch lieber den Nächsten einlädt, als diese Person, anstelle zu sagen: „wir probieren das mal aus“. Wahrscheinlich ist der größte Hebel, wirklich bei den KMUs anzusetzen und zu Staffeln. Also zu sagen, die Unternehmen, die gar keine Menschen mit Behinderungen beschäftigen, müssen eine höhere Ausgleichsabgabe zahlen als Sanktionierung, als Unternehmen, die vielleicht bei 4,9 Prozent sind.

Vicky: Ja, und vielleicht braucht es – das ist mein bescheidener Blick, auch als Gründerin, die sich mit anderen Gründerinnen austauscht – noch mehr Aufklärung und noch mehr Aufforderungen. Man kriegt alle möglichen Wurfsendungen, Briefe von Ministerien, von IHKs, von ich weiß nicht was, aber nirgendwo steht drin: „Und denke bitte dran, wir wollen als inklusive Gesellschaft weiterwachsen und haben ein Augenmerk darauf gerichtet, auf Menschen mit Behinderung“. Also ich finde, es könnte auch da mehr aktiver Aufruf passieren, um das Bewusstsein zu schärfen, dass es ab 20 wirklich eng wird. Dass es wie du sagst, Strafzahlungen gibt, die es heute schon gibt, die vielleicht höher sein müssen, aber tatsächlich auch mehr Aufforderungen leisten und vielleicht auch Hinweise liefern, wie man sich sinnvoll informieren kann und das Recruiting sinnvoll starten kann für mehr Menschen mit Behinderungen. Du hast vorhin auch erwähnt, Raul, dass eurer Verein SOZIALHELD:innen, den du mit deinem Cousin zusammen gegründet hast, Menschen, Unternehmen und Institutionen dafür sensibilisiert, dass Menschen mit Behinderungen als Zielgruppe bei unterschiedlichen Produkten und auch Dienstleistung mitgedacht werden. Wie läuft das denn seitdem? Hat sich da schon was getan? Seid ihr mit der Entwicklung zufrieden? Was sind die nächsten großen Schritte?

Raul: Also zufrieden sind wir natürlich nie, weil das ist auch unser Innovationsmotor, dass wir uns ganz oft fragen: Wie wäre das eigentlich, wenn Menschen mit Behinderungen hier oder dort mitgedacht werden würden? Ein praktisches Beispiel fällt mir gerade ein. Wir haben ein Projekt gestartet, es nennt sich TV für alle. TV für alle ist eine Fernsehzeitschrift, online, wie TV Movie oder Hörzu.de, wo ich eben gucken kann, was kann ich heute im Fernsehen schauen? Das Besondere an TV für alle ist aber, dass wir das Fernsehprogramm filtern können, welche Sendung Untertitel und welche Sendung Audiodeskription hat. Und wenn man diese Filter anmacht, stellt man fest, dass fünf Prozent des Fernsehprogramms überhaupt für blinde Menschen mit Audiodeskription zugänglich ist. Und jetzt kann man die Frage stellen: Woher habt ihr denn diese Information? Diese Daten kann man einkaufen am Markt einkaufen, bei Dienstleistern, die diese Daten aufbereiten für Fernsehzeitschriften. Und jetzt ist unsere Frage gewesen, warum bietet eigentlich TV Movie oder die Hörzu nicht selbst diesen Filter an, dass man nur Sendungen mit Audiodeskription oder mit Untertiteln sehen möchte? Und wir wollen mit Hilfe von TV für alle quasi zeigen, wie man so ein Projekt bauen könnte und andere motivieren, es ähnlich zu tun. Wenn sie dabei sind eine Fernsehzeitschrift zu entwickeln dann kann man es erweitern. Zum Beispiel auf Mediatheken, Netflix, Amazon Prime und Co., weil auch dort diese Filterkriterien notwendig und wichtig sind für blinde und oder gehörlose Menschen. Das heißt, hier versuchen wir mit gutem Beispiel voranzugehen und wir versuchen hier auch technische Lösungen zu zeigen, die gar nicht teuer sind, um es in die Tat umzusetzen. Ein anderes Projekt, das wir machen, ist die Wheelmap, die Onlinekarte für rollstuhlgerechte Orte. Dort können Bürger:innen ihre Nachbarschaften bewerten, wie rollstuhlgerecht diese sind. Das machen wir seit zehn Jahren. Die Karte ist inzwischen die größte der Welt geworden. Wir haben über eine Million Einträge und entwickeln jetzt einen Standard, mit dem wir dann auf große Unternehmen wie Apple und Google usw. zugehen, um zu sagen: „Hey Leute, ihr habt ja auch diese Karten. Ihr seid Meister von Karten. Wollen wir nicht mal darüber nachdenken, wie man die Zugänglichkeit von Orten standardisiert, damit sie auch Plattform übergreifend funktionieren?“ Dabei reden wir nicht nur über Zugänglichkeit von Gebäuden, sondern vielleicht auch Routennavigation mit der U-Bahn, zum Beispiel mit dem Hinweis, dass die Station gerade einen kaputten Aufzug hat. Diese Daten liegen alle vor und es ist alles digital verfügbar – schon immer gewesen. Aber sie sind eben nicht nutzbar für Bürger:innen. Wir versuchen, genau diese Lösungen zu entwickeln, damit sie nutzbar werden für Bürgerinnen und Bürger. In Berlin haben wir jetzt das Projekt BrokenLifts gestartet. Es ist eine Echtzeitanzeige über die Funktionsfähigkeit von Aufzügen, der U-Bahn und der S-Bahn. Das heißt, wenn ich mich auf den Weg mache von A nach B kann ich mich informieren, ob auf dem Weg ein Aufzug defekt ist. Und wenn ja, muss ich eine Alternativroute überlegen.

Vicky: Ja, das sind ja ganz praktische Informationen, die einfach in die Nutzung kommen müssen. Und insofern finde ich das super, dass ihr so aktiv auf die Chefs der Karten etc. pp. zugeht, um es mal so zu sagen. Das wäre schön, wenn das verfügbar ist und ich stell mir das auch gerade vor, welchen Mehrwert es hat, wenn es einfach kenntlich hätte auf Google Maps und Co..

Raul: Und das könnte man sogar erweitern auf Events zum Beispiel. Also wenn man große Konferenzen macht, einfach auf der Anfahrtsbeschreibung anzeigen, ob der Aufzug oder die Station überhaupt ein Aufzug hat. Oder ob der Aufzug funktioniert, das könnte man vollautomatisch integrieren. Aber wir werben auch dafür, dass die Veranstaltungen selbst inklusiv sind, also Menschen mit Behinderungen auch auf Panels sitzen. Oder wenn wir über Vielfalt und Diversity reden, nicht immer nur Gender oder Migration, sondern eben auch Behinderungen mitgedacht werden, weil das die Dimension ist, die als letzte oder gar nicht mehr genannt wird. Da versuchen wir, die Fahne hochzuhalten und wir merken, dass Unternehmen dem auch immer offener gegenüberstehen. Also wir beraten inzwischen einige Hersteller im Bereich Packaging, wie sie auch für blinde Menschen nutzbar sein können, oder Menschen mit motorischen Einschränkungen, sodass die Sichtbarkeit insgesamt größer wird.

Raul: Und gerade in Deutschland, glaube ich, ist das ein starkes Alleinstellungsmerkmal und Potenzial. Also wenn ich die erste Firma bin, die einen Werbespot in Audiodeskription anbietet, dann ist das ein PR-Thema. Aber es macht das noch keiner. Warum macht IKEA noch kein Sonderheft über barrierefreies Wohnen? Die Möbel haben sie schon alle. Man muss sie nur anders konfektionieren und anders ausrichten, aber kein neues Möbelstück bauen. Und so hätten sie super PR-Thema.

Vicky: Absolut! Das unterstütze ich, wie du weißt sehr und finde das ganz konkrete, gute, greifbare Ansätze, über die wir mehr nachdenken sollten. Mir persönlich und uns als Initiative geht es natürlich darum, dass Menschen mit Behinderungen genauso betrachtet werden wie Menschen unterschiedlichen Geschlechts. Dafür setzen wir uns ein und das sind ganz hilfreiche und gute Ideen, die ich gerne weitertrage. Worauf ich jetzt zum Schluss gerne zu sprechen kommen würde, Raul, ist dein neuer Podcast, Wie kann ich was bewegen. Da sprichst du mit Aktivist:innen darüber, wie einzelne Personen Wirtschaft und Gesellschaft beeinflussen und verändern können. Was waren denn bisher die einprägsamen Sequenzen oder Gäst:innen? Erzähl mal, wie läuft's?

Raul: Also sehr beeindruckt hat mich Carola Rakete, die Kapitänin und Polarforscherin, die mir sehr eindrücklich klar gemacht hat, dass alles zusammenhängt. Also der Klimawandel hängt mit der Unterbringungs- bzw. der Flüchtlingskrise zusammen. Der Raubbau den die Industriestaaten am sogenannten globalen Süden betreiben, hängt wiederum mit dem Klimawandel zusammen usw.. Wenn wir die Probleme einzeln betrachten, sehen wir das große Ganze nicht. Wir müssen insgesamt an den Punkt kommen, wo wir weniger konsumieren und wo es wirklich früher oder später auch um Verzicht gehen muss und nicht immer um höher, schneller, weiter. Auch die Idee, dass wir jetzt alle die Benzinautos mit Elektroautos ersetzen, ist letztendlich nur ein Austauschen von der Plastikzahnbürste zur Bambuszahnbürste, aber das wird die Welt nicht retten. Was wir brauchen, sind grundsätzlich neue Konzepte und Ansätze, wie wir unsere Gesellschaft von diesem kapitalistischen Wachstums-Trip erlösen können. Und das wiederum ist so eine große Aufgabe, dass viele Menschen anfangen aufzugeben und dass das Gefühl der Selbstwirksamkeit verloren geht. Wenn die einzige Option, die ich als Bürger:in überhaupt noch habe, alle vier Jahre zur Wahl zu gehen ist und selbst das mich mit dem Gefühl hinterlässt „Das ändert ja eh nichts“, dann brauchen wir uns nicht wundern, wenn sich immer mehr Menschen ins Private zurückziehen. Wir müssen wieder an den Punkt kommen, gesellschaftlich, wo, auch wenn es nur eine kleine Verbesserung in der Nachbarschaft ist, in meiner Straße, in meinem Hinterhof, dass wieder mehr wertgeschätzt wir. Um da wieder ein Gefühl der Wirksamkeit der eigenen Partizipation herzustellen. Das ist etwas, was mich sehr beschäftigt.

Vicky: Selbstwirksamkeit ist ein wichtiger Punkt, wieder zu spüren und das Positive daraus zu ziehen. Herzlichen Dank für diesen persönlichen Einblick. Wer noch mehr erfahren will, dem sei dein Podcast sehr empfohlen. Leider sind wir am Ende unserer Zeit, aber es gibt noch die Rubrik AskMeAnything. Hast du denn eine Frage, die du mir gerne stellen würdest, Raul?

Raul: Ich wollte dich schon immer mal gefragt haben, wann du für dich gemerkt hast, dass das so nicht weitergeht und du unbedingt etwas machen musst? Du hast BeyondGenderAgenda initiiert, ich gehe also davon aus, dass du auch Diskriminierung Erfahrungen erlebt hast.

Vicky: Ja, tatsächlich eher weniger. Oder zumindest nicht so einprägsam, dass die den Stein sozusagen zur Gründung ins Rollen gebracht haben, dass tatsächlich weniger. Was ich aber glaube, dass es mir insofern leichter fällt, das Ganze zu strukturieren und mit meiner Kompetenz als Kommunikationsexpertin sozusagen zu unterstütze. Vor allen Dingen eben auch auf alle Dimensionen gleichermaßen einzugehen, weil ich eben nicht Diskriminierung in einer Dimension ganz klar empfunden oder erfahren habe. Der Auslöser war tatsächlich mehr, dass mir damals Kund:innen erzählt haben, wie sie tatsächlich in Deutschland – und in der Zeit habe ich etwas internationaler gearbeitet – die gläserne Decke erleben und was es tatsächlich für Barrieren gibt. Das war der Starting Point sozusagen, eben aus dieser Gender-Empfindung der Glasdecke heraus. Dann habe ich mich auf meine Zeit in den USA zurückbesonnen und gesagt, wenn ich mich einsetze, dann möchte ich das tatsächlich umfassender und inklusiver machen und niemanden ausgrenzen. Und daher kam der Gedanke Top-Führungspositionen müssen mit Menschen mit der besten Eignung und unabhängig von ihrer Prägung, egal welche das ist, besetzt werden. Insofern finde ich es tatsächlich sehr wünschenswert, mal eine Persönlichkeit mit einer Behinderung oder mehreren Behinderungen in unseren Führungsgremien zu sehen und zu zeigen, dass es geht, weil es gehen kann! Ich glaube, das stellen wir zwar gar nicht in Frage, das muss nur noch ankommen und es würde mich sehr freuen, wenn unsere Arbeit dazu beitragen würde. Das ist sozusagen der Hintergrund, warum ich gegründet habe.

Raul: Packen wir es an!

Vicky: Packen wir es an, packen wir es gemeinsam an! Ich freue mich sehr über deine Unterstützung und darauf, weiter mit dir an den Themen zu arbeiten. Danke dir vor allen Dingen herzlich für deine Zeit heute, lieber Raul! Ich hoffe, euch hat diese Folge von DRIVING CHANGE, dem Diversity Podcast gefallen. Neue Folgen gibt es immer donnerstags und damit ihr keine Folge verpasst, abonniert uns gerne auf allen gängigen Podcast-Plattform und folgt uns auf LinkedIn, Instagram und Twitter. Falls ihr Ideen habt, welche Gäsat:innen ich einmal in unseren Podcast einladen soll, mach doch gerne einen Vorschlag. Ich freue mich darauf, und immer über euer Feedback, bis zum nächsten Mal eure Vicky.

Über diesen Podcast

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