Der Diversity, Equity & Inclusion Podcast von BeyondGenderAgenda
DRIVING CHANGE
Der Diversity Podcast von BeyondGenderAgenda
Gemeinsam mit ihren Gäst: innen setzt CEO und Gründerin Victoria Wagner die Themen Diversity, Equity und Inclusion (DE&I) auf die Agenda der deutschen Wirtschaft. DE&I bezogene Fragen und aktuelle Ereignisse werden erörtert und aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Durch das Teilen persönlicher Erfahrungen und konkreter Lösungsansätze wird ein Beitrag zu einer diverseren und inklusiveren Wirtschaft geleistet.
Gemeinsam mit ihren Gäst: 11.11.21 EPISODE MIT KATRIN LANGENSIEPEN
Katrin: Die Kritik an den Werkstätten für Menschen mit Behinderung ist nicht neu. Es hat in den 70er, 80er Jahren immer in der Krüppel-Bewegung, also in der selbstbestimmten Bewegung von behinderten Menschen, den Ruf gegeben, an den WfbM etwas zu verändern.
Vicky: Hallo und herzlich willkommen zu Driving Change, dem Diversity Podcast. Ich bin Vicky Wagner, Gründerin und CEO von BeyondGenderAgenda und spreche mit meinen Gäst:innen darüber, was wir gemeinsam tun können, um die Themen Diversität, Chancengerechtigkeit und Inklusion auf die Agenda der deutschen Wirtschaft zu setzen. Meine heutige Gesprächspartnerin ist Katrin Langensiepen. Sie ist Abgeordnete der Grünen im Europaparlament und die einzige weibliche Abgeordnete mit einer sichtbaren Behinderung. Katrin nutzt ihre Stimme, um Personen zu vertreten, die häufig nicht gehört werden. Schön, dass du da bist, liebe Katrin, herzlich willkommen!
Katrin: Danke für die Einladung.
Vicky: Sehr, sehr gerne. Wollen wir damit starten, dass du dich einmal mit persönlichen Worten vorstellst und vielleicht den Fokus auch auf den Punkt in deinem Leben legst, der besonders wichtig ist.
Katrin: Ja, wie schon richtig gesagt, ich bin Katrin Langensiepen, 42 Jahre alt und seit 2019 im Europaparlament, was ich nie gedacht habe und hatte da nie den Plan, in die große Politik zu gehen. Habe viele, viele Dinge gemacht und war nie wirklich politisch dahingehend aktiv parteipolitisch und glaube so ohne Plan ist immer der beste Plan. Und bin, wie du schon gesagt hast, erschreckenderweise die einzige Frau überhaupt mit Behinderung- sichtbar nicht sichtbar ist in dem Fall egal. Da sind wir sehr wenige Selbstvertretungen, sag ich mal, und das ist schon sehr, sehr traurig. Es ist sehr viel Arbeit, ist sehr viel Verantwortung, aber auch unheimlich viel Spaß.
Vicky: Und das ist immer gut und wichtig. Dann kann man Verantwortung auch besser schultern, finde ich. Und bevor wir darauf eingehen und das ist natürlich heute unser Hauptthema auch, warum es eigentlich so ist, dass du letztendlich da als Einzelkämpferin deine Stimme erhebst, würde mich aber auch mal interessieren, du hast es gerade selber in deiner Vorstellung gesagt, es war für dich auch überraschend, dass du heute da bist, wo du bist. Wie hat sich das entwickelt? Wie bist du dahin gekommen, wo du heute bist? Was waren so die wesentlichen Wendepunkte eigentlich in deinem Leben, dass du letztendlich im Europaparlament gelandet bist?
Katrin: Ich glaube, unter dem Begriff Wut kann man das sehr gut zusammenfassen, dass ich es frustrierend fand. Man ist gut ausgebildet, man hat eine Art von Weg hinter sich und im Prinzip wird man, ich glaube, da spielen aber auch unterschiedliche Gründe eine Rolle, dass man auf dem Arbeitsmarkt keinen Fuß fassen kann, dass es immer irgendwie ein Problem war, als Person, Mensch, junger Mensch, Frau mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt seinen Platz zu finden und beziehungsweise der Platz, der für einen da gesellschaftlich vorgeschrieben war, ich diesen Platz nicht wollte, sage ich mal. Ich habe diese Angebote immer dankend abgelehnt und ich mir immer die Frage gestellt habe: Wer sagt eigentlich, dass das nicht geht? Ist es irgendwo in Stein gemeißelt? Na ja, du wirst ja nicht dieses oder jenes können. Ich wollte beispielsweise immer Nachrichtensprecherin werden und dann hieß es: Na ja, aber jemanden wie dich mit einer sichtbaren Behinderung, den wird man nicht einstellen, das ist klar. Warum ist das klar? Wer entscheidet das? Und das habe ich hinterfragt. Und ich glaube, das war so mein Antrieb. Und ich habe lange gedacht naja, Behinderung, das wird nicht so eine extreme Rolle spielen, es wird schon irgendwie werden, wird schon irgendwie werden. 2010 habe ich aber gesagt, ich war arbeitslos, Hartz-IV-Empfängerin und aus dieser Aussichtslosigkeit und dieses gesetzt sein „ja, das ist dann eben so“, wie ich gesagt habe: Nee, das ist nicht so und das will ich ändern und habe mich auf den Weg gemacht und habe dieses Thema angefangen zu bespielen. Menschen mit Behinderung und Arbeit und auch aus Unternehmer:innensicht. Und wir sprechen ja auch in einem Unternehmer-Format heute, was ich immer sehr spannend finde, dass mir immer signalisiert wurde, dass sind ganz dicke Bretter und sie sind echt die letzte auf die man gewartet hat und dort wo dann fängt man an zu bohren. Und in den letzten zehn Jahren hat man immer gebohrt und gebohrt und es ist mal direktes Bohren, mal indirektes Bohren. Aber ich glaube, wenn ich auch so auf die zehn Jahre zurückblicke, über zehn Jahre, dass sich schon was getan hat, auch im Bereich Diversität, Vielfalt. Da ist noch viel Luft nach oben, aber das war so mein Antrieb, parteipolitisch aktiv zu werden, innerhalb einer Partei, also in dem Fall der Grünen Partei, da für Sichtbarkeit und eine Stimme zu sorgen. Es war auch Glück, dass die Kommunalwahlen in Niedersachsen stand an, keiner hatte mich auf dem Schirm. Ich habe einfach mal den Finger gehoben – die quotierte Liste hat Vorteile. Darum bin ich bin eine Quotenfrau und bin eine große Verfechterin der Quote. Ohne Quote werden wir nicht weiterkommen, bin ich fest davon überzeugt, Erfahrungswerte. Nein, auf freiwilliger Basis wird da gar nichts passieren. Und ich über dieses über diesen Quotenmechanismus in den Stadtrat damals gekommen bin und dann einfach machen. Sozialpolitikerin gewesen, sozialpolitische Themen beackert und dann ergeben sich manchmal Möglichkeiten und dann muss man auch zuschlagen. Also wenn du das jetzt hier nicht machst, dann ist es aber blöd.
Vicky: Wenn man dann so lange so engagiert sich eingesetzt hat. Und wie du sagst, so eine Mischung aus Wut als Antrieb oder eben auch diesen starken emotionalen Antrieb zu Veränderung und eben Konsequenz und Durchhaltevermögen und immer bohren und wenn es dann die Chance gibt, dann zuschlagen. Ja, sehe ich ganz genauso. Und den Mut muss man einfach auch mal aussprechen, den muss man anderen machen, weil dann darf nicht gezögert werden. Und du hast es eben selber gesagt es war ein Platz für dich vorgesehen. Den wolltest du aber nicht. Und das war überhaupt nicht das, was du dir vorgestellt hast. Ich vermute, dass es eventuell einen Platz in einer Behindertenwerkstätte gewesen sein könnte, wenn das so war oder auch wenn es nicht so war: Über das Thema würde ich gerne mit dir sprechen. Die Behindertenwerkstätten stehen, ich würde persönlich sagen zum Glück, endlich stark in der Diskussion und in der Debatte. Du hast dazu auch eine klare Haltung und das finde ich wichtig, dass eben Menschen, die eine stärkere Betroffenheit haben, dazu die Möglichkeit haben, sich mal zu positionieren und etwas zu sagen. Und das tust du ja auch dein ganzes Leben lang. Teile auch mal mit uns, was du von den Behindertenwerkstätten hältst und warum das so ist. Vielleicht auch für die Zuhörer:innen, die nicht so versiert in dem Themengebiet sind.
Katrin: Ja, vielleicht kurz zu meiner Biografie: Ich war immer auf einer Regelschule. Ich wollte nie in eine Förderschule, weil ich da die Sorge hatte, wenn du einmal in diese Sonderwelt reinkommst, ist es halt schwierig, wieder rauszukommen und habe da in der Regelschule stark kämpfen müssen. Und es war im Prinzip Swim or Sink, was natürlich auf keinen Fall eine Option sein darf. Und das ist leider immer noch so und es wird vielen Eltern, Familien, Kindern, Jugendlichen mit Behinderung immer noch einfach unsagbar schwer gemacht, wenn sie sagen: Ich möchte in den inklusiven Bildungsweg gehen und dann irgendwann kommt die Frage der Ausbildung und der Weiterbildung und der Arbeit. Und da wusste man damals, so 1996/97 nicht wirklich, was man mit mir machen sollte. Und da war ich immer so eine heiße Kartoffel, die man immer so weitergereicht hat. Und da hatte man dann für mich ein Angebot in Berlin, ein Berufsbildungswerk, wo ich Bürokauffrau hätte lernen können, vier Jahre. Das fand ich erst mal super Berlin – toll, raus aus dem Dorf bin. Dann habe mir aber den Vertrag genau durchgelesen und in diesem Vertrag stand dann um die D-Mark Taschengeld. Da kann man sagen okay, das ist dann subventionierte Arbeit. Nach 22:00 Uhr hätte ich nicht mehr raus gedurft. Ich war fast 18 und einmal im Monat hätte ich nach Hause fahren dürfen. Und dann dachte ich so, ich habe keine gesetzliche Betreuung, wer kann mir vorschreiben, also wenn ich 18 bin, wann ich nach Hause kommen darf. Und die hatten da wohl schon mit mir gerechnet. Aber als ich mir den Vertrag durchgelesen hatte, ist klar geworden, solche Einrichtungen gibt es wirklich. Ich kannte sowas vorher in der Form überhaupt nicht. Was ist das? So was existiert. Dann haben meine Eltern und es steht und fällt oft mit den Eltern, die mich da immer unterstützt haben, gesagt haben: Wenn du das nicht willst, dann musst du das auch nicht machen. Und ich hatte ein ganz schreckliches Erlebnis, sage ich mal, es klingelte das Telefon und dann war, ich nehme mal an, die Geschäftsleitung dieser Einrichtung am Apparat und er sagt: Ja, guten Tag, und wir wollten einfach noch mal hören, was Sie denn benötigen. Brauchen Sie Hilfsmittel und welche Unterstützung? Sie kommen ja bald zu uns. Und ich war das auch in meiner jugendlichen Naivität und meinte: Nee, also ich habe mir das anders überlegt. Ich mache das doch nicht. Und er ist am Telefon ausgetickt. Ich glaube, ich wurde noch nie so angeschrien am Telefon. Es ist mir durch Mark und Bein.
Vicky: Also auf eine Aussage, dass du nicht kommst…?
Katrin: Ich habe gesagt: Ich mach das nicht. Nein, das hat sich erledigt. Ich kannte den gar nicht. Er kannte mich überhaupt nicht. Ich werde nie irgendwo eine Stelle bekommen, so nach dem Motto: Wenn ich dieses Ausbildungsangebot nicht annehme, dann ist mein Leben gelaufen. Und dann habe ich aufgelegt und dachte oha! Und dann hatte ich wie gesagt auch Eltern, die mich da gestützt haben und die gesagt haben: Komm, mach dir keine Gedanken. Das wird schon. Ich bin weiter zur Schule gegangen, bin immer wieder weiter und weiter und weiter. Und dann irgendwann muss man sich aber auch der Frage stellen.
Nun zur Struktur einer WfbM. Die Kritik an den Werkstätten für Menschen mit Behinderung ist nicht neu. Es hat in den 70er, 80er Jahren immer in der Krüppel-Bewegung, also in der selbstbestimmten Bewegung von behinderten Menschen, den Ruf gegeben, an den WfbM etwas zu verändern und hier Alternativen zu schaffen, es zu öffnen. Also diese Kritik ist keine Katrin-Kritik oder eine Grünen Kritik. Und aufgrund dieser Kritik und Bewegungen hat es ja auch nachher die UN-Behindertenrechtskonvention gegeben, beziehungsweise die gibt es und die wurde 2009 auch von Deutschland ratifiziert, von der Europäischen Union ratifiziert. Sehr, sehr viele Länder haben diesen Text unterschrieben und da steht im Artikel 26, dass halt Menschen mit Behinderung von ihrer Arbeit, sie sollen ein Wunsch- und Wahlrecht haben. Aber wenn ich zwischen WfbM und zu Hause bleiben wählen kann, es tut mir leid, ist das keine wirkliche Wahl. Das ist kein Wahlrecht, das ist friss oder stirb. Und es steht auch drin: Die Menschen sollen von der Arbeit leben können. Also ich soll meinen Lebensunterhalt selbstständig bestreiten können. Das kann ich von der reinen Tätigkeit in einer WfbM nicht. Also die Entlohnung ist das eine. Es gibt da noch zahlreiche Sozialtöpfe, womit es dann noch aufgestockt wird und man nach 20 Jahren eine Renten-Berechtigung hat und auch eine gute Rente bekommt. Das ist das Prinzip der WfbM. Elterninitiative, für die die es nicht wissen, Eltern behinderter Kinder, die sich Ende ihrer 50er überlegt haben, was ist mit meinem Kind, wenn ich nicht mehr bin, was auch eine völlig verständliche Sorge ist, natürlich, und das gilt es überhaupt nicht in Abrede zu stellen.
Ich kritisiere das System, ich kritisiere das System, dass wir einfach den Fakt haben, dass der Übergang aus der Werkstatt in den ersten Arbeitsmarkt im Promillebereich liegt. Es ist die Aufgabe der WfbM natürlich Menschen zu qualifizieren. Dass aber in den WfbM oft Menschen landen, die keine Schulausbildung oder einen Schulabschluss haben. Das ist ein Unding. Es darf nicht sein, dass jemand die Schule verlässt und kein Zeugnis hat. So kann ich mich bei keinem Unternehmer vorstellen, selbst wenn er noch so gewillt ist, die Person einzustellen. Wenn es aber heißt: Nein, aber ich brauche einen Schulabschluss von dir, ansonsten geht das nicht. Dann hat sich das schon mal erledigt. Also Bildungsansätze.
Dann finde ich es ein Unding, dass wir immer noch die Tatsache haben, Außenarbeitsplätze - dass Menschen mit einem Werkstättenvertrag beispielsweise dann bei VW arbeiten. Ich nehme da mal ganz gerne VW, weil das bei uns in Niedersachsen ein großer Player ist, die das auch sehr gerne annehmen und dann aber sagen: Na ja, einstellen möchte ich die Person dann nicht so gern. Dass wir aber mit der WfbM auch ein System haben, was gewachsen ist in den letzten 50 Jahren, was du nicht mal eben reformierst, veränderst. Ob das ein Mindestlohn sein kann? Das ist die eine Frage. Ja, man soll von seiner Arbeit leben können, aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Es geht um: Ich möchte selbstständig auch mal unter nichtbehinderten Menschen arbeiten. Es gibt Menschen, die leben seit 40 Jahren in einer WfbM. Das ist eigentlich nicht der Auftrag einer WfbM. Und das auseinander zu klamüsern und zu sagen, wir machen jetzt mal was anderes. Und das meine ich mit dicken Brettern. Als ich vor über zehn Jahren mit dem Thema angefangen habe, war das noch Schimpf und Schande über mich, wenn man dazu nur laut geatmet hat: wie du stellst das in Frage?
Vicky: Genau, das kann ich mir vorstellen. Man hatte ja ein System, was vordergründig funktionierte.
Katrin: Es funktionierte für alle. Die Menschen waren versorgt, die Menschen waren geschützt. Ich finde es einen ganz schrecklichen Begriff, dass behinderte Menschen, die sind ja keine aussterbenden Arten, geschützt werden müssen. Vor wem auch? Dem Böse, der bösen, nichtbehinderten Gesellschaft? Da werde ich denn nur gedisst und gemobbt. Das Mobbing habe ich an Förderschulen, Mobbing habe ich in der WfbM, Mobbing habe ich da wo Menschen zusammen sind, da können Machtstrukturen missbraucht werden, nennen wir es mal so, oder Machtstrukturen entwickelt werden, die nicht gut sind. Also das für mich kein Argument. Und wir in der Europäischen Union sind in Deutschland Spitzenreiter, mit 320.000 Menschen, die in diesen Werkstätten arbeiten, das ist keine geringe Zahl, die keinen Arbeitnehmer:in-Status haben. Und wenn man dann Produkte aus einer WfbM kauft und es sind ja auch wirklich Leistungen, die da erbracht werden, es ist auch ein Leistungsdruck, der in den WfbM steckt. Es ist ja nicht nur, ich komme ja irgendwie zur Arbeit und trink nur Kaffee und dann kommt der Bus und fährt mich nach Hause, sondern da ist ja auch Termindruck. VW sagt: So, bis morgen wird das eingetütet und nicht, wenn ihr mal Lust habt. Also da, dass man genau hinguckt, was passiert da? Und ich glaube, da muss ganz, ganz viel passieren, dass ist ein wirkliches Wahlrecht gibt für die behinderten Menschen, dass sie von der Arbeit leben können, dass sie die Möglichkeit haben, mit ihrer persönlichen Assistenz flexibel von A nach B, von B nach A arbeiten können und wo sie Entscheidungen treffen können. Aber das ist der Grundgedanke, dass behinderte Menschen, dass man sich darum kümmert und versorgt. Und irgendwie wird das schon. Ja, wo sollen die Menschen denn hin? Werde ich ganz oft gefragt, dann sag ich: Warum müssen Menschen mit Behinderung immer irgendwo hin?
Vicky: Ja genau, warum überhaupt irgendwohin?
Katrin: Wohin? Was machen wir mit Oma? Keiner will sie. Ja, was machen wir mit Oma? Was machen wir mit Menschen, die inklusiv beschult werden und sagen: Ich will aber was anderes? Es gibt Menschen, die möchten, dass ihr Kind versorgt wird. Aber es gibt auch Eltern, da erreichen mich schreiben, die sagen: Mein Kind oder mein 18-jähriges erwachsenes „Kind“, das hat aber dieses oder jenes vor. Und was können wir tun, weil das Jobcenter oder der Reha-Bereich sagt, du musst aber. Also wo sind da welche Interessen? Und da komme ich wieder zum Thema zu dem Bereich System, nicht das, was die Menschen tun. Also wenn da jemand eine Postkarte zu Weihnachten erstellt, ist es eine wunderschöne Postkarte, aber er soll auch was davon haben. Und das wissen halt viele, die sich mit dem Thema nicht befassen, überhaupt nicht. Das sind keine Arbeitnehmer:innen, die da eine Entlohnung bekommen oder ein Streikrecht haben oder irgendwie Arbeitnehmer:innen sind wie du und ich.
Vicky: Genau das ist ja glaube ich mitunter ein großer Verursacher auch dessen, dass sich jetzt nicht schnell viel ändert, dass Menschen mit Behinderung so wenig in unserer Mitte stattfinden als Gesellschaft, weil eben, wir haben gerade darüber gesprochen, sie eben wenig Wahlrecht und Selbstbestimmungsrecht haben und letztendlich in diese Institutionen - wo sollen wir mit ihnen hin? Wir haben keinen Platz, da sollen sie hin. Und ich glaube, das ist das große Problem. Und wie können wir das denn knacken? Wie kommen wir denn dahin, dass es wieder natürlicher wird? Und wie kommen wir vor allen Dingen als Deutschland dahin? Weil man muss sich ja wirklich schämen. Du hast es eben gesagt: Innerhalb der EU sind wir negativer Spitzen-Vorreiter. Wie können wir das denn konkret jetzt auflösen? Was können wir tun? Wie können wir dem Thema noch mehr Sichtbarkeit geben, damit es den Menschen auch bewusster ist? Oder muss ich sagen es ist tatsächlich ja nicht jeder nicht gewillt, die Themen von Menschen mit Behinderungen zu sehen, aber viele wissen tatsächlich gar nicht, wie es um sie bestellt ist. Und wie schaffen wir das, mehr Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken, damit sich mehr Menschen auch ohne Behinderung für die Belange von Menschen mit Behinderung einsetzen? Hast du da eine Idee?
Katrin: Ich glaube wirklich, dass wir im Bereich Kita und Bildung, dass da der Schlüssel liegt. Wenn wir alle miteinander in eine Klasse gehen und wir Kinder aus unterschiedlichen Kulturen, wo ich nicht von Bienchen und Blümchen spreche, sondern da muss man dann auch Geld reinstecken und Lehrer:innen unterstützen, die manchmal eine Mörder-Arbeit in dem Bereich machen und immer mehr ihr Privatleben reinstecken. Also der Bildungsbereich ist ganz, ganz wichtig. Und dass Assistenzen ermöglicht werden und wir am Ende des Tages sagen: Du gehst hier mit uns die nächsten Jahre gemeinsam zur Schule und das ist normal. Und nicht: Was machen wir mit Thomas, der im Rolli sitzt. Also immer dieses Kästchendenken, das ist ja ganz stark in Deutschland. Und dass wir im Bildungsbereich anfangen, dass wir aber auch Diversität in den Unternehmen hoch hängen. Die USA sind da weitaus weiter. Ich gucke mir immer gerne, was die Amis machen und lern davon. Ich glaube Diversität -da können wir von den Amerikanern sehr viel lernen. Für die ist das ein Selbstverständnis. Und da werden Menschen mit Behinderung eher als Kundinnen und Kunden gesehen. Da gebe ich immer gerne das Beispiel: Ich hatte mal ein Interview mit einem namhaften PC Unternehmen und die haben sich mit mir ausgetauscht und meinten, wie divers können wir denn werden? Und was können wir denn tun? Ich meinte, stellt Menschen mit Behinderung ein, habt eine kritische Masse an PoC, an queeren Menschen, an Menschen mit Behinderung, setzt einen Prozentsatz fest. Qualifiziert sie und seht sie nicht als burden, sondern als part of the game. Auch nicht als Bereicherung. Ich finde es immer alles so kitschig. Bereicherung, bunte Gesellschaft, das sind so Begriffe, da sträuben sich die Nackenhaare. Es ist ein Menschenrecht und ich bin nicht einfach ein buntes Puzzlestück, das das Bild bunter macht. Und dann meinte ich: Na ja und seht behinderte Menschen als Kundinnen und Kunden, als Gäste. Das muss die Deutsche Bahn beispielsweise noch sehr stark verarbeiten, weil auch behinderte Menschen sind Steuerzahler. Ich gehe in den Supermarkt, ich kaufe ein. Und dann habe ich dem Unternehmen gesagt: Na ja, ich hatte eine Kaufentscheidung zu treffen, und ich konnte mich zwischen einem Gerät von eurer Konkurrenz entscheiden oder dem Gerät von euch entscheiden. Und ich habe mich für das Gerät von der Konkurrenz entschieden und hab denen das so vor den Latz geknallt. Und dann gucken die ganz glasig. Und ich sage: Weil das einfach an Punkten A, B, C und D für mich barrierefreier ist und ich in einer sehr seltenen Situation und Position bin, dass ich das übers Geld entscheide. Aber da bin ich nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Das Thema Diversität ist immerhin schon auf der Agenda. Aber wenn wir über Diversität reden, spielen behinderte Menschen da leider immer noch eine sehr leise Rolle.
Es gibt sie, jedoch gibt es auch das Problem mit den Institutionen. So lange versteckt wird und die eine Seite nicht mit der anderen Seite sprechen kann und es keine Möglichkeiten oder Orte der Begegnung gibt. Und da ist der digitale Raum ein Segen für mich, weil das Internet ist eine Erfindung, ohne die wäre ich heute glaube ich auch nicht da, wo ich heute bin. Also dann hätte ich nicht die Leute kennengelernt, hätte nicht andere Sichtweisen kennengelernt. Und Raul und ich, wir sind ja so eine Generation, so seine Positionen und Einstellungen waren für mich Tür öffnend. Da bin ich also nicht die Einzige, die das so sieht. Und das ist eine ganz, ganz große Möglichkeit. Und das, glaube ich, sind so Punkte, wo wir ansetzen müssen. Aber wenn es schon ein Kraftakt ist, eine Frauenquote in Dax-Unternehmen zu bekommen und eine junge Frau Bundeskanzlerin werden will und was sie da an Gegenwind erfahren hat, denke ich: Wo stehen wir dann als Innovationsland? Und immer noch die alten weißen Männer glauben, sie sind die Verkörperung der Innovation? Sorry, wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Dann habt ihr den Schuss noch nicht gehört. Und da würde ich wirklich mal sagen schaut mal wie die Amis das machen. Die investieren in Diversität, sie investieren in Personal und Recruitment. #CriptheVote war eine große Kampagne der behinderten Bewegung zu den US-Wahlen. Präsident Biden hat behinderte Menschen weitaus mehr auf dem Schirm als eine Angela Merkel und hat es auch so kommuniziert. Das würde ich mir stärker wünschen. Und dass da, wo es geht, behinderte Menschen auch empowert werden. Und empowern heißt nicht: Ich setz dich nicht einfach auf einen Stuhl und ha! gescheitert. Wir wussten es ja – so wird das nichts.
Vicky: Sondern die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit eben ein Scheitern möglichst ausgeschlossen wird. Das wäre nämlich auch meine Abschlussfrage gewesen, liebe Katrin, wir haben neu gewählt, es finden aktuell noch die Koalitionsgespräche statt. Also wir haben noch einen kleinen Weg. Aber es sieht ja so aus, dass die Grünen da auch entsprechend stark mitwirken. Aber es sind ja nicht nur die Grünen, es läuft wahrscheinlich auf eine Ampel hinaus. Was wünschst du dir von unserer neuen Regierung? Du hast es eben schon angedeutet. Aber vielleicht zum Schluss noch mal zusammengefasst. Was muss die neue Regierung leisten, damit es zügig vorangeht?
Katrin: Dass die UN BRK endlich umgesetzt wird, auf allen Gebieten. Das passiert ja gerade in gar keinen Schritten. Noch nicht mal in Mini-Schritten. Und das wir haben ja von grüner Seite aus mit Stephanie Aeffner, eine Abgeordnete, die im Rollstuhl ist. Auch das wurde in den Medien beispielsweise überhaupt nicht aufgegriffen. Es wurde über die queere Community und über Migrationsanteil berichtet, aber dass wir da eine Frau mit Behinderung haben, die auch Behinderten-Politik machen will, tauchte gar nicht auf. Also soviel zum Thema Wahrnehmung von behinderten Menschen. Also wo setzen wir an? Im Prinzip in allen Lebensbereichen. Man kann nicht sagen, da machen wir es und da machen wir es nicht. Also Arbeit ist ein ganz, ganz wichtiges Thema. Wie können wir die Menschen in den ersten Arbeitsmarkt bekommen? Und Entbürokratisierung ist da das Stichwort, dass man die Unterstützung, die es ja gibt, ein Kraftakt ist und die Leute es dann irgendwann total gefrustet einfach sein lassen. Oder die Eltern irgendwann sage: Ich kann nicht mehr, dann ist es eben einfach so. Nein, das darf nicht so sein, dass es dann eben so ist. Das sind so Punkte, glaube ich, die da ganz wichtig sind, anzugehen. Auch dieses soziale Konstrukt und Behindertenhilfe heißt es ja so schön, dahingehend entschlackt, dass es UN konform ist und für die Menschen zuträglich ist und nicht die daran verdienen. Wem nutzt das Soziale- und Fürsorge-System? Ich glaube durch den Dschungel mit der Machete – das ist noch viel Arbeit, aber das würde ich mir wünschen von der neuen Regierung, da in allen Bereichen die Wege zu gehen. Denn wie gesagt der Bereich Arbeit ist da ein ganz, ganz wichtiger Punkt für uns Grüne.
Vicky: Ja, ich nehme mit: Entbürokratisierung. Das gilt ja nicht nur für den Bereich Inklusion, sondern möchte ich mal allumfassend kurz weit aufmachen: Es ist ein dringliches Thema, aber eben im Speziellen auch vor allen Dingen eben Bildung, Arbeit und Umsetzung der UN-Konvention. Herzlichen Dank für dieses inspirierende Gespräch, vor allem in diesem persönlichen Einblick, den du uns gegeben hast. Ich finde, es hilft immer, wenn man diesen Einblick bekommt und teilhaben darf, auch an den größtenteils auch schlechten Erfahrungen, die Menschen mit Behinderung immer noch machen. Es ist aber wichtig, dass man das mal so erfährt. Herzlichen Dank für deine Zeit und dein Engagement und ich hoffe weiter so, dass ganz viele deiner Wünsche und Hoffnungen relativ bald in Erfüllung gehen. Wir versuchen zu unterstützen, wo es eben geht. Herzlichen Dank!
Katrin: Vielen Dank!
Vicky: Ich hoffe, euch hat diese Folge von Driving Change, dem Diversity Podcast, gefallen. Neue Folgen gibt es immer donnerstags und damit ihr keine Folge verpasst, abonniert uns gerne auf allen gängigen Podcast Plattformen und folgt uns auf LinkedIn, Instagram und Twitter. Falls ihr Ideen habt, welche Gäst:innen ich einmal in unserem Podcast einladen soll, macht doch gerne einen Vorschlag. Ich freue mich darauf und immer über euer Feedback. Bis zum nächsten Mal, eure Vicky.